Eine halbe Autostunde westlich von Innsbruck liegt ein Ort, an dem Sieg und Scheitern nah zusammenliegen. Dort, im Skigymnasium Stams, wird die Elite des österreichischen Skisports herangezogen. Im wahrsten Sinn des Wortes – beherbergt die Schule doch unter dem gewölbten Dach, das sich wie die Schwingen eines Adlers über den Betonbau stülpt, nicht nur Klassenzimmer und Turnhallen, sondern auch ein Internat.

Das Dach des Skigymnasiums ist den Flügeln eines Adlers nachempfunden.
Foto: Florian Scheible

Straffer Zeitplan

Dort leben alle 175 Schülerinnen und Schüler, auch wenn sie aus dem Ort stammen. Ihr Zeitplan ist straff. Vormittags wird trainiert, nachmittags studiert – oder umgekehrt. In den Stamser Gefilden werden die 14- bis 20-Jährigen nicht nur für den Spitzensport feingeschliffen, sondern auch auf das Leben vorbereitet.

Eine Schule fürs Leben sei Stams, findet Schuldirektor Arno Staudacher.
Florian Scheible

So sieht es zumindest Schuldirektor Arno Staudacher. Das Wort "Kaderschmiede" – wie der Salzburger Filmemacher Bernhard Braunstein seine Dokumentation über Stams betitelt hat – hört Staudacher nicht gern. Braunstein hat den Stamser Schulalltag über ein Jahr lang filmisch begleitet. Sein Werk ist seit dem Wochenende in den österreichischen Kinos zu sehen.

Bemühte Dualität der Exzellenz

Fragt man Staudacher, was seine Schule auszeichnet, so spricht er zunächst vom pädagogischen Konzept. Die Schule sei 1967 auch aus der "Notwendigkeit heraus" gegründet worden, "Talenten auch über die Grundschulzeit hinaus eine schulische Ausbildung zu ermöglichen". Dies spiegelt sich auf der Ehrentafel im Eingangsbereich der Schule wider. Neben den Medaillengewinnerinnen und Olympiasiegern wird dort auch der "Student of the Year" ausgewiesen. Auf einer eigenen Liste wird die berufliche Karriere außerhalb des Sports honoriert. Ein Alumnus hat es zum Leiter der Sicherheitsakademie des Bundes¬innenministeriums geschafft, ist dort zu lesen. Und einer ist jetzt Lufthansa-Pilot.

Die Schulleitung ist bemüht, die schulischen Qualitäten hervorzuheben. Die Absolventinnen und Absolventen können mit den anderen mithalten – das zeigt sich spätestens seit der Einführung der Zentralmatura im Jahr 2014.
Florian Scheible

Trotzdem: Die sportliche Leistung steht in Stams an erster Stelle. Die Semester an der Schule – die ein Oberstufenrealgymnasium und eine Skihandelsschule umfasst – schlagen im Takt des Wintersports. Im Winter gibt es Rennferien, schulisch intensiver wird es im Herbst und im späten Frühjahr.

Schon von weitem strahlt die 1.500-Einwohner-Gemeinde Stams etwas Bedeutungsschweres aus. An diesem Dienstag Ende Februar sind die breiten Türme des Zisterzienserstifts aus dem 13. Jahrhundert in diesige Morgensonne getaucht. Im Schatten schroffer Felsen schmiegen sich zwei Skisprungschanzen in die Bergflanken. Es ist kurz vor zwölf Uhr. Nach und nach trudeln die Busse aus den umliegenden Skigebieten ein. Sie spucken Jugendliche in Rennanzügen aus. An manchen prangen Logos.

Ein Schüler kommt vom Training zurück. Viel Zeit zum Mittagessen bleibt nicht. Am Nachmittag beginnt der Unterricht. Gelernt wird bis um 19 Uhr.
Florian Scheible

Talenteschmiede von nationalem Interesse

Dass die jungen Körper zu Werbeflächen werden, sieht Staudacher nicht kritisch. Sponsoren schon früh an Land zu ziehen bereite den Nachwuchs auf die spätere Karriere vor. Außerdem würden so die Eltern finanziell entlastet. Ein Jahr in Stams kostet 7000 Euro, Material und Transport zu den Wettkämpfen kommen noch dazu. Stams ist eine Privatschule öffentlichen Rechts. Das Unterrichtsministerium decke das pädagogische Personal ab, erklärt Staudacher, dann gebe es noch einen privaten Verein, der zu je einem Drittel von Bund, Land und dem Stift Stams finanziert wird. Stams ist eine Talenteschmiede von nationalem Interesse. 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind aus Österreich.

Arno Staudacher leitet die Schule seit 2005. In seiner Jugend war er selbst Leistungssportler, dann ÖSV-Trainer.
Florian Scheible

Wenn Staudacher über seine Schule spricht, dann liegt nicht nur Stolz in seinen Augen, sondern auch Güte und Sorge – fast so, als wären es seine eigenen Kinder, über die er spricht. Stams ist sein Leben. 2005 wurde er Direktor, davor leitete er 18 Jahre lang die Abteilung für Ski Alpin. In seiner Jugend war er selbst Leistungssportler, jahrelang trainierte er den ÖSV-Nachwuchs. Noch heute – knapp ein Jahr vor seiner Pension – schmücken schwere Trophäen aus Glas und Gold das Regal in seinem Schulleiterbüro.

Hunderte Medaillen gehen auf das Stamser Konto

Fragt man Staudacher nach den Höhepunkten seiner Karriere, so sagt er, es habe "zahlreiche" gegeben. "Gewaltig" sei insbesondere der Erfolg der Stamser Absolventinnen und Absolventen bei den Olympischen Winterspielen 2006 in Turin gewesen. Sie heimsten damals 13 Medaillen ein. Heute weist der Medaillenspiegel 35-mal Gold, 45-mal Silber und 47-mal Bronze bei Olympischen Winterspielen und insgesamt 286 Weltmeisterschaftsmedaillen aus. Doch an die Spitze schafft es nur "ein kleiner Prozentsatz".

Deshalb sei auch ein "Plan B" so wichtig, sagt Staudacher. 20 bis 30 Prozent eines Jahrgangs brechen die Schule ab – meist sei es eine Mischung aus unterschiedlichen Gründen. Knapp hundert junge Menschen absolvieren jährlich die Aufnahmeprüfung, maximal 45 werden genommen. In Stams tut man jedenfalls, was man kann, um den vielversprechenden Nachwuchs zu halten. Drei Mentalcoaches – darunter auch eine Frau – helfen den Jungen dabei, mit dem großen Druck umzugehen.

Der sportliche Leiter Harald Haim war selbst in Stams – seither hat sich vieles verändert, sagt er. Das Training sei viel individueller geworden.
Florian Scheible

Die Zweierzimmer sind nun nach (Sehnsuchts-)Orten benannt: Streif, Bergisel, Seefeld. Früher habe man noch von "Trakten" gesprochen – "wie im Gefängnis", kommentiert Harald Haim. Er ist seit 1994 als Springertrainer in Stams, seit 2006 ist er auch der sportliche Leiter des Hauses. Haim zeigt ein leerstehendes Zimmer im Erdgeschoß. Es ist barrierefrei. Man habe es damals für eine Schülerin errichtet, die nach einem Sturz querschnittsgelähmt war.

Starke, zerbrechliche Körper

Gips und Krücken gehören zum Schulbild. Im großzügigen Trainingsraum strampelt ein Sportler mit lädiertem Arm auf dem Rad. Verletzungen, speziell im Alpinbereich, seien sicherlich "zu viel" – und zwar "im Sinne der Schwere und im Sinne der Häufigkeit", räumt Staudacher ein. Auch Braunsteins Film zeigt das hohe Risiko auf. "Ein bisschen zu prominent", findet Staudacher. "Vielleicht" komme nun aber "endlich Bewegung in die Gremien", schiebt Staudacher die Verantwortung den Skiverbänden zu. Spitzensport sei nun mal riskant. "Wild" sei es schon immer gewesen. Das Material werde aber immer besser, die Hebel immer extremer: ein "60 Kilo schweres Madl auf einem schweren Abfahrtsski" bei Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 120 Kilometern pro Stunde. Da sei es dann "kein Wunder, wenn's das Knie zerfetzt".

Gips, Krücken, Beinschienen – Verletzungen gehören zum Schulbild dazu.
Florian Scheible

Die schulischen Aspekte seien indes zu kurz gekommen, bedauert Staudacher. Er habe Braunstein aber ohne Interventionen gewähren lassen und dann erst den fertigen Film gesehen. Aus der Vergangenheit habe man gelernt, größten Wert auf Transparenz zu legen. Im Zuge der im Jahr 2017 entfachten MeToo-Debatte sowie im Zusammenhang mit Dopingskandalen sei Stams in "Fahrwasser" geraten, in die man nicht gehöre. Doping und Demütigung seien "nicht Stams-spezifisch", betont Staudacher. Man tue alles, um solche Entgleisungen zu unterbinden. Nicht Leistung, sondern die menschliche Würde stehe in der "Schule des Lebens" an oberster Stelle, betont Staudacher. (Maria Retter, 7.3.2023)